THC-Schnelltest-Dilemma: Polizei fordert "Cannabis-Alkomat" für 3,5 ng/ml-Grenzwert
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Mehr als ein Jahr nach der Cannabis-Teillegalisierung und der Reform des Straßenverkehrsgesetzes offenbart sich ein massives Vollzugsdefizit. Die Gewerkschaft der Polizei (GdP) kritisiert, dass die bei Verkehrskontrollen eingesetzten Drogen-Schnelltests den neuen THC-Grenzwert von 3,5 ng/ml im Blutserum nicht differenzieren können (GdP Deutsche Polizei 01/2025). Die Tests schlagen positiv an, auch wenn Fahrer unter dem legalen Grenzwert liegen. Während Rheinland-Pfalz seit Mai 2025 neue Schnelltests erprobt, wartet der Rest Deutschlands auf eine Lösung. Es droht eine Vollzugskrise: Zu viele falsch-positive Tests, zu wenig rechtssichere Anfangsverdachte.
Die Kernpunkte im Überblick
- Neuer Grenzwert seit August 2024: Das "Sechste Gesetz zur Änderung des Straßenverkehrsgesetzes" ersetzte den alten 1,0 ng/ml-Grenzwert durch 3,5 ng/ml THC im Blutserum – vergleichbar mit 0,2 Promille Alkohol (BMV).
- Alte Tests zu empfindlich: Die bei Verkehrskontrollen eingesetzten Speichel- oder Urintests sind auf 1,0 ng/ml kalibriert und schlagen positiv an, auch wenn der Fahrer unter 3,5 ng/ml liegt (GdP).
- GdP fordert "THC-Alkomat": Die Polizeigewerkschaft fordert "bundeseinheitlich flächendeckend Vortests, die rechtssicher die Wirkung von Drogen anhand des analytischen Grenzwertes erfassen" (GdP).
- Pilotprojekt in Rheinland-Pfalz: Seit Mai 2025 testet die Polizei in Trier neue Cannabis-Schnelltests mit angepassten Cut-Off-Werten bei 3,5 ng/ml (1730live).
- Rechtsunsicherheit für Beamte: Ohne zuverlässigen Vortest können Beamte keinen rechtssicheren Anfangsverdacht für eine Blutprobe begründen – das Gesetz wird de facto unkontrollierbar (GdP).
Die Reform: Was sich am 21. August 2024 änderte
Am 21. August 2024 trat das "Sechste Gesetz zur Änderung des Straßenverkehrsgesetzes" in Kraft (BMV). Es ersetzte den jahrzehntelang geltenden, faktischen Nulltoleranz-Grenzwert von 1,0 ng/ml THC im Blutserum durch einen neuen Grenzwert von 3,5 ng/ml.
Dieser Wert basiert auf einer Expertenkommission, die feststellte, dass 3,5 ng/ml THC im Blutserum in seiner Wirkung auf die Fahrtüchtigkeit etwa 0,2 Promille Alkohol entspricht (Science Media Center). Das Ziel war klar: Eine Trennung zwischen dem nüchternen Konsumenten (der vor Tagen konsumiert hat und bei dem nur noch Restspuren nachweisbar sind) und dem akut berauschten Fahrer.
Die Reform war ein Kompromiss: Verkehrssicherheitsexperten und Teile der Union wollten den alten 1,0 ng/ml-Grenzwert beibehalten (Bundestag). Cannabis-Befürworter forderten einen noch höheren Grenzwert oder eine reine Wirkungsbeeinträchtigung ohne festen Grenzwert. Der 3,5 ng/ml-Wert wurde als wissenschaftlich fundierter Mittelweg präsentiert.
Das Problem: Alte Tests, neuer Grenzwert
Die bei Verkehrskontrollen eingesetzten Drogen-Schnelltests – meist Speichel- oder Urintests – sind jedoch auf die alten, niedrigen Grenzwerte kalibriert (Bussgeldkatalog.org). Sie schlagen "positiv" an, sobald sie THC in einer Konzentration oberhalb von etwa 1,0 ng/ml detektieren.
Das bedeutet in der Praxis:
- Ein Fahrer konsumierte Cannabis vor 12 Stunden. Sein aktueller THC-Wert im Blutserum liegt bei 2,5 ng/ml.
- Er ist fahrtüchtig und liegt unter dem legalen Grenzwert von 3,5 ng/ml.
- Bei einer Verkehrskontrolle wird ein Speicheltest durchgeführt. Dieser schlägt positiv an (da > 1,0 ng/ml).
- Der Beamte ordnet aufgrund des positiven Vortests eine Blutprobe an.
- Die Blutprobe zeigt: 2,5 ng/ml. Unter dem Grenzwert. Verfahren wird eingestellt.
Für den Fahrer bedeutet das: Zeitverlust, Stress, möglicherweise vorläufiger Führerscheinentzug, obwohl er nichts falsch gemacht hat. Für die Justiz: Unnötige Verfahren. Für die Polizei: Rechtsunsicherheit.
Die Forderung der GdP: "THC-Alkomat" statt Rechtsunsicherheit
Die Gewerkschaft der Polizei (GdP) kritisiert diese Situation scharf. In ihrer Zeitschrift "Deutsche Polizei" (Ausgabe 01/2025) fordert sie "bundeseinheitlich flächendeckend Vortests, die rechtssicher die Wirkung von Drogen anhand des analytischen Grenzwertes erfassen" (GdP Deutsche Polizei 01/2025).
Die GdP argumentiert, dass es "nicht zumutbar" sei, eine "eingriffsintensive Maßnahme" wie eine richterlich anzuordnende Blutentnahme zu veranlassen, wenn der Vortest den legalen Grenzwert nicht differenzieren kann (GdP). Es werde "vergeblich auf eine Anpassung der Vortestverfahren gewartet".
Diese Position unterscheidet sich fundamental von der Kritik anderer Polizeiverbände (wie der DPolG) oder der CDU/CSU-Fraktion, die den 3,5 ng-Grenzwert an sich ablehnen. Die Forderung der GdP zielt nicht auf die Rücknahme des Grenzwerts, sondern auf die technische Handhabbarkeit des bestehenden Gesetzes.
Der Begriff "THC-Alkomat" – in Anlehnung an den bei Alkoholkontrollen eingesetzten Atemtest – verdeutlicht die Forderung: Ein Vortest, der vor Ort, in Sekunden, zuverlässig anzeigt, ob der Fahrer über oder unter dem Grenzwert liegt. Ein Äquivalent zum Alkohol-Atemtest, der eine klare Ja/Nein-Entscheidung ermöglicht.
Das Pilotprojekt Rheinland-Pfalz: Die Praxis testet bereits
Während auf Bundesebene über das Problem debattiert wird, hat Rheinland-Pfalz im Mai 2025 ein Pilotprojekt gestartet. In der Region Trier erprobt die Polizei, in Kooperation mit der Rechtsmedizin der Universität Mainz, neue Cannabis-Schnelltests (1730live).
Diese neuen Tests verwenden angepasste "Cut-Off-Werte" – die Toleranzgrenzen, ab denen der Test ein positives Ergebnis anzeigt. Das Ziel: Der Test soll erst dann positiv anschlagen, wenn der 3,5 ng/ml-Grenzwert wahrscheinlich überschritten ist.
Erste Ergebnisse und Herausforderungen
Erste Berichte zeigen:
- Schnelligkeit: Ein Speicheltest lieferte in einem dokumentierten Fall innerhalb von 3 Minuten ein Ergebnis (1730live).
- Reduktion falscher Alarme: Die Tests sollen "falschen Alarm" reduzieren, indem sie den höheren Cut-Off-Wert (bei oder über 3,5 ng/ml) verwenden.
- Wissenschaftliche Begleitung: Die Rechtsmedizin der Uni Mainz validiert die Tests, indem sie die Vortest-Ergebnisse mit den späteren Bluttestergebnissen abgleicht. So kann die Zuverlässigkeit der neuen Tests überprüft werden.
Das Pilotprojekt in Rheinland-Pfalz ist (Stand November 2025) der vielleicht wichtigste Baustein für die Zukunft der CanG-Verkehrskontrollen. Sollte es scheitern oder die Tests sich als unzuverlässig erweisen, steht Deutschland vor einem massiven Vollzugsproblem.
Die Vollzugskrise: Was passiert, wenn keine Lösung kommt?
Sollten die Pilotprojekte wie das in Rheinland-Pfalz scheitern oder nicht bundesweit ausgerollt werden, steht die Polizei vor einer unmöglichen Wahl:
Option 1: Cannabis-Kontrollen weitgehend einstellen
Mangels zuverlässiger Vortests könnten Polizeibeamte Cannabis-Kontrollen deprioritisieren. Der Aufwand (Blutprobe anordnen) steht in keinem Verhältnis zum Ergebnis (viele Verfahren werden eingestellt, da unter 3,5 ng/ml). Die Kontrolle wird ökonomisch sinnlos.
Das Ergebnis: De facto keine Durchsetzung des THC-Grenzwerts. Das Gesetz existiert, wird aber nicht kontrolliert. Das untergräbt die Rechtssicherheit und das Vertrauen in die Verkehrssicherheit.
Option 2: Tausende ungerechtfertigte Blutproben
Beamte ordnen weiterhin aufgrund positiver (aber technisch übersensibler) Vortests Blutproben an. Die Bluttests zeigen in vielen Fällen: Unter 3,5 ng/ml. Verfahren werden eingestellt.
Das Ergebnis: Überlastung der Justiz, Kosten für Blutproben (pro Probe ca. 200-300 Euro), Vertrauensverlust der Bürger in die Polizei. Fahrer, die nichts falsch gemacht haben, werden stigmatisiert und zeitweise ihres Führerscheins beraubt. In einem Fall in Büdingen führte genau diese Konstellation zu einem Gerichtsentscheid, bei dem ein Fahrer (2,8 ng/ml, unter dem Grenzwert) freigesprochen wurde – aber erst nach monatelangem Verfahren (DAV).
Der juristische Kontext: Was sagen Gerichte?
Gerichte haben bereits auf die neue Situation reagiert. In mehreren Fällen wurden Fahrer freigesprochen, deren Bluttests Werte unter 3,5 ng/ml zeigten – selbst wenn der ursprüngliche Vortest (Speichel) positiv war (DAV).
Die juristische Logik ist klar: Wenn das Gesetz einen Grenzwert von 3,5 ng/ml definiert, ist ein Wert darunter legal. Der positive Vortest ist dann irrelevant. Das Problem: Die Fahrer müssen diesen Prozess durchlaufen (Blutprobe, Verfahren, möglicherweise monatelange Unsicherheit), obwohl sie von Anfang an nichts falsch gemacht haben.
Rechtsanwälte raten Betroffenen zunehmend, bei positiven Vortests auf eine Blutprobe zu bestehen – um den genauen Wert zu klären und bei Werten unter 3,5 ng/ml eine Einstellung des Verfahrens zu erreichen (Avaay Rechtsanwälte).
Politische Dimensionen: CDU/CSU vs. Ampel
Die THC-Grenzwert-Debatte ist auch eine politische. Die CDU/CSU-Fraktion lehnte den 3,5 ng/ml-Grenzwert von Anfang an ab und plädierte für die Beibehaltung der faktischen Nulltoleranz bei 1,0 ng/ml (Bundestag). Die Kritik: Der neue Grenzwert gefährde die Verkehrssicherheit.
Die Ampel-Koalition (SPD, Grüne, FDP) argumentierte hingegen, dass der alte Grenzwert zu restriktiv war und Konsumenten kriminalisierte, die längst nüchtern waren. Der 3,5 ng/ml-Grenzwert sei ein wissenschaftlich fundierter Kompromiss, der Verkehrssicherheit und individuelle Freiheit in Einklang bringe.
Die aktuelle Vollzugskrise gibt beiden Seiten Munition: Die Union kann argumentieren, dass die Reform schlecht vorbereitet war und die Polizei im Stich lässt. Die Ampel kann argumentieren, dass die Union nie eine Lösung für die Diskriminierung nüchterner Konsumenten hatte und nur Symbolpolitik betreibt.
Chancen & Risiken
- Chance: Sollte das Rheinland-Pfalz-Pilotprojekt erfolgreich sein und bundesweit ausgerollt werden, könnte Deutschland einen internationalen Präzedenzfall schaffen: Ein funktionierendes, wissenschaftlich fundiertes Kontrollsystem für Cannabis am Steuer. Das wäre ein Erfolgsmodell für andere Länder.
- Risiko: Scheitert das Pilotprojekt oder wird nicht bundesweit umgesetzt, droht ein Vollzugsvakuum. Cannabis-Kontrollen werden entweder ineffektiv oder ungerechtfertigt übergriffig. Das untergräbt das Vertrauen in das CanG und die Verkehrssicherheitspolitik.
- Risiko politische Instrumentalisierung: Die Union könnte die Vollzugskrise nutzen, um eine Rücknahme des 3,5 ng-Grenzwerts zu fordern – unabhängig davon, ob die wissenschaftliche Begründung des Grenzwerts weiterhin valide ist. Das könnte die Cannabis-Politik zurück in die Prohibition treiben.
Das THC-Schnelltest-Dilemma offenbart eine klassische "Gesetz-Technik-Lücke". Der Bundestag hat 2024 einen Grenzwert beschlossen, der von Experten als konservativ und sicher eingestuft wurde. Soweit korrekt. Aber dann wurde versäumt, der Exekutive (Polizei) die technologischen Werkzeuge an die Hand zu geben, um dieses Gesetz rechtssicher auf der Straße zu kontrollieren.
Die Forderung der GdP ist kein politisches Statement, sondern ein fundamentaler Hilferuf nach technisch-juristischer Handlungsfähigkeit. Beamte vor Ort brauchen ein klares Werkzeug: Grün = legal, rot = Blutprobe. Alles dazwischen ist Rechtsunsicherheit, die weder der Polizei noch den Bürgern hilft.
Das Rheinland-Pfalz-Pilotprojekt ist der Lackmustest. Funktioniert es, kann Deutschland international zeigen: So geht evidenzbasierte Cannabis-Verkehrspolitik. Scheitert es, wird die Cannabis-Legalisierung in Deutschland zum Rohrkrepierer – nicht wegen falscher Gesetze, sondern wegen fehlender Technik. Und das wäre eine Blamage.
📦 Archivierte Quellen (Wayback Machine)
Alle externen Quellen wurden am 17.11.2025 beim Internet Archive gesichert:
- www.gdp.de
- www.bmv.de
- www.1730live.de
- www.sciencemediacenter.de
- www.bundestag.de
- www.bussgeldkatalog.org
- anwaltverein.de
- avaay.de
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