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Politik & Gesellschaft

EU-Recht vs. Telemedizin-Verbot: Droht Berlin ein Dämpfer aus Luxemburg?

Symbolbild: Ein deutsches Verbotsschild für Telemedizin wird von der Waage der EU-Justiz auf seine Verhältnismäßigkeit geprüft.
Berlins geplantes Verbot für Online-Cannabisrezepte steht auf dem Prüfstand des europäischen Binnenmarktes.

Die Bundesregierung will den Online-Boom bei Cannabis-Rezepten stoppen: Die Erstverschreibung soll nur nach einem persönlichen Arzttermin möglich und der Versand von Blüten komplett verboten werden. Quelle: Reuters (08.10.2025) Doch während Berlin von Patientenschutz spricht, warnen Jurist:innen vor einem Konflikt mit fundamentalen EU-Rechten. Hintergrund: Richtlinie 2011/24/EU, C-517/23 m.w.N., C-148/15

Das Wichtigste in Kürze

  • Berlins Plan: Präsenzpflicht bei der Erstverordnung, Versandverbot für Blüten, Abgabe in Präsenz-Apotheken – begründet mit +400 % Importen (H1/2025). Reuters
  • Konflikt mit EU-Recht: Telemedizin fällt unter die Patientenrechte-Richtlinie 2011/24/EU und Aspekte der E-Commerce-Richtlinie 2000/31/EG; pauschale Verbote müssen die Verhältnismäßigkeit bestehen. 2011/24/EU · KOM SWD(2012)414
  • DocMorris-Linie: Der EuGH erlaubt nationale Gesundheitsregeln – aber nur zielgenau und proportional; zu grobe Pauschalverbote fallen regelmäßig durch. C-148/15 · C-517/23 · C-649/18 (Analyse)
  • Hohes Klagerisiko: Plattformen/Ärzte könnten klagen; Vorlagefragen an den EuGH wären wahrscheinlich. EU-Telemedizin-Leitdokument

Was die Bundesregierung konkret plant (und warum)

Der am 8. Oktober vom Kabinett beschlossene Gesetzentwurf sieht zwei zentrale Verschärfungen vor: eine Pflicht zum persönlichen Arzt-Patienten-Kontakt bei der Erstverordnung von Cannabisblüten sowie ein Verbot des Versandhandels mit diesen. Die Abgabe soll nur noch in Präsenz-Apotheken mit Beratungspflicht erfolgen. Begründet wird dies mit einem unkontrollierten Anstieg der Importe um über 400 % im ersten Halbjahr 2025, mutmaßlich getrieben durch Online-Rezeptplattformen. Quelle: Reuters

Wo das EU-Recht „Nein, aber…“ sagt

Gesundheitspolitik ist Sache der Mitgliedstaaten – aber sie muss mit dem EU-Binnenmarkt vereinbar sein. Telemedizinische Leistungen, insbesondere grenzüberschreitend, fallen unter die Patientenrechte-Richtlinie 2011/24/EU; zudem greifen Prinzipien der E-Commerce-Richtlinie 2000/31/EG (Stichwort: koordinierter Bereich, Herkunftslandprinzip und Ausnahmen bei öffentlicher Gesundheit). Eingriffe müssen geeignet, erforderlich und verhältnismäßig sein. 2011/24/EU · SWD(2012)414 · C-517/23

Ein Patient auf dem Land wird durch ein Verbotsschild am Laptop von der ärztlichen Versorgung abgeschnitten, während ein EU-Kompass einen alternativen Weg zeigt.
Für Patient:innen in ländlichen oder unterversorgten Gebieten stellt das Verbot eine erhebliche Hürde dar.

Mögliche Angriffspunkte gegen das Verbot

Ungleichbehandlung: Warum pauschal nur Cannabisblüten? Für viele andere Rx-Arzneien ist Telemedizin (unter Auflagen) zulässig – das wirft Kohärenzfragen auf. Übermaßverbot: Wären mildere Mittel – etwa Zertifizierungspflichten, strenge Ident-Checks, verpflichtende Follow-ups in Präsenz – nicht ebenso effektiv? Die EuGH-Rechtsprechung zur Online-Apothekenpraxis (u. a. DocMorris-Komplex) zeigt: Der Holzhammer scheitert oft an der Verhältnismäßigkeit. C-148/15 · C-649/18 (Analyse)

Der Weg nach Luxemburg: Nach nationalen Klagen wären Vorlagefragen an den EuGH wahrscheinlich. Der Gerichtshof prüft streng, ob nationale Maßnahmen zielgenau Missstände bekämpfen und keine milderen, gleich wirksamen Alternativen übergehen. C-517/23

Szenarien & Zeitplan

Nach dem Kabinettsbeschluss folgen Bundestag/Bundesrat. Parallel ist eine EU-Notifizierung plausibel – mit möglicher Stillhaltefrist, die das Inkrafttreten verzögert. Kommt das Gesetz, sind Klagen von Plattformen, Ärzt:innen oder Verbänden wahrscheinlich. Ein denkbares Ergebnis: Luxemburg kippt das Pauschalverbot, Berlin muss nachschärfen (z. B. Telemedizin-Whitelist, Audit-Pflichten, quartalsweise Präsenz). SWD(2012)414

Chancen & Risiken

  • Chance: Kurzfristig Eindämmung fragwürdiger Online-Rezepte; Stärkung der Präsenz-Beratung in Apotheken. Reuters
  • Risiko: EU-Rechtskollision, Zugangshürden für ländliche/immobile Patient:innen, und bei EuGH-Niederlage politische Blamage plus Rechtsunsicherheit. 2011/24/EU
Dennis

Meinung von Dennis von BesserGrowen

Dies ist ein Kommentar, nicht Teil der Nachricht

Ein pauschales Verbot ist das grobe Werkzeug für ein feines Problem. Berlin ignoriert die Lehren aus DocMorris & Co. und riskiert sehenden Auges eine Niederlage in Luxemburg. Wenn die Regierung Missbrauch stoppen will, geht das auch präzise: zertifizierte Telemedizin-Anbieter, verpflichtende Standards, harte Audits und ein verpflichtender Präsenz-Check pro Quartal. Das schützt Patient:innen – ohne den EU-Binnenmarkt unnötig zu provozieren.

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