Für Tausende schwerkranke Patienten sollte es einfacher werden. Im Oktober 2024 fiel der Genehmigungsvorbehalt für Cannabis-Verordnungen – weniger Bürokratie, schnellerer Zugang. Doch die Realität zeigt ein verstörendes Bild: Die Ablehnungsquote ist gestiegen, Ärzte haben mehr Angst vor Regressen als je zuvor, und Patienten zahlen die Rechnung. Buchstäblich.
Reform mit Sollbruchstelle: Wie gut gemeint zum Gegenteil wurde
Am 17. Oktober 2024 trat eine Reform in Kraft, die eigentlich alles besser machen sollte. Ärzte bestimmter Fachgruppen – darunter Allgemeinmediziner, Neurologen, Schmerztherapeuten – dürfen seitdem medizinisches Cannabis verordnen, ohne vorher bei der Krankenkasse um Erlaubnis zu fragen. 16 Facharztgruppen und 5 Zusatzqualifikationen wurden befreit. Das Ziel: Bürokratie abbauen, Patienten schneller versorgen.
Doch was auf dem Papier wie Erleichterung aussah, entpuppte sich als Bumerang. Die Arbeitsgemeinschaft Cannabis als Medizin (ACM) warnte im August 2025 eindringlich: "Die Genehmigungsquote der GKV von zuvor bereits lediglich nur ca. 60% [ist] nochmals weiter abgesunken." Mit anderen Worten: Weniger Patienten bekommen heute die Kostenübernahme als vor der Reform.
Der verborgene Mechanismus: Wie Regressangst zum Showstopper wurde
Warum wirkt eine Erleichterung erschwerend? Die Antwort liegt in einem Detail, das der G-BA selbst in die Reform einbaute: Die freiwillige Genehmigung. Ärzte können weiterhin einen Antrag stellen – und der G-BA empfiehlt das ausdrücklich, "bei Unklarheit über die Verordnungsvoraussetzungen". Das klingt harmlos. Ist es aber nicht.
Denn was passiert, wenn ein Arzt ohne Genehmigung verschreibt und die Krankenkasse später sagt: "Das war nicht gerechtfertigt"? Dann droht ein Regress – der Arzt muss die Kosten persönlich zurückzahlen. Bei Cannabis-Therapien reden wir von mehreren hundert bis über 1.000 Euro pro Monat. Pro Patient. Multipliziert mit der Anzahl der Fälle wird das schnell existenzbedrohend.
Die Regress-Falle: Ein Rechenbeispiel
Ein Hausarzt verschreibt 10 Patienten Cannabis. Kosten: durchschnittlich 600€/Monat. Nach einem Jahr prüft die Krankenkasse rückwirkend – und befindet 3 Verordnungen für "nicht wirtschaftlich". Der Arzt zahlt 21.600€ aus eigener Tasche. Das ist kein Horrorszenario – das ist Realität in deutschen Praxen.
Die logische Konsequenz: Ärzte stellen lieber doch einen Antrag – "nur zur Sicherheit". Und damit sind wir wieder beim alten System. Nur mit einem entscheidenden Unterschied: Jetzt haben die Kassen weniger Druck, Anträge zu genehmigen. Denn wenn der Arzt hätte ohne Genehmigung verordnen können, warum sollte die Kasse dann bei einem freiwilligen Antrag großzügig sein?
MDK als Türsteher: Wenn Gutachten zur Glückssache werden
Die Prüfung durch den Medizinischen Dienst der Krankenkassen (MDK) ist der Nadelöhr-Punkt. Rechtsanwälte berichten von MDK-Stellungnahmen, "die vorrangig dazu dienen, eine Ablehnung zu begründen" (Kanzlei Bischof, 2018). Die häufigsten Ablehnungsgründe:
- "Nicht austherapiert": Der Klassiker. Selbst wenn Patienten jahrelang erfolglos behandelt wurden, findet sich immer noch eine Therapieoption, die "formal noch nicht versucht" wurde.
- "Unzureichende Begründung": Die ärztliche Dokumentation sei nicht ausführlich genug. Was "ausführlich genug" ist, bleibt Ermessenssache.
- "Fehlende Studien": Es gebe nicht genug wissenschaftliche Evidenz. Paradox: Für die Begleiterhebung braucht man Verordnungen – aber ohne Studien gibt's keine Verordnungen.
Die Zahlen lügen nicht: Import explodiert, GKV-Verordnungen stagnieren
Das Bundesgesundheitsministerium meldete im Sommer 2025 eine "bedenkliche Fehlentwicklung": Cannabis-Importe stiegen im ersten Halbjahr 2025 von 19 auf 80 Tonnen – ein Plus von über 400%. Gleichzeitig bewegten sich die GKV-Verordnungen nur im einstelligen Prozentbereich.
Die Regierung deutet das als Missbrauch der Telemedizin. Doch Patientenverbände und die Cannabis-Industrie widersprechen: Viele schwerkranke Patienten zahlen aus eigener Tasche, weil ihre Krankenkasse ablehnt. Diese Selbstzahler tauchen in keiner GKV-Statistik auf – verzerren aber das Bild massiv.
Selbstzahler: Die unsichtbare Patientengruppe
Schätzungen gehen von Zehntausenden Patienten aus, die Cannabis privat kaufen müssen. Kosten: 5-15€ pro Gramm, je nach Sorte. Bei einem monatlichen Bedarf von 30-60 Gramm sind das 150-900€ – Geld, das chronisch Kranke oft nicht haben. Die Alternative: zurück auf den Schwarzmarkt. Genau das, was das Cannabisgesetz verhindern sollte.
Politischer Gegenwind: Die neue Regierung verschärft den Kurs
Als wäre die Situation nicht angespannt genug, plant die neue CDU/SPD-Regierung weitere Restriktionen. Gesundheitsministerin Nina Warken (CDU) betont: "Medizinisches Cannabis ist ein verschreibungspflichtiges Arzneimittel, kein Genussmittel. Der persönliche Kontakt zwischen Arzt und Patient muss wieder die Regel werden."
Die geplanten Änderungen:
- Versandverbot für Cannabisblüten: Patienten müssten ihre Medizin persönlich in der Apotheke abholen – ein Problem für immobile Schmerzpatienten.
- Persönliche Erstverordnung: Telemedizin nur noch nach physischem Erstkontakt – auch das erschwert den Zugang, besonders in ländlichen Regionen.
- Strengere Dokumentationspflichten: Mehr Bürokratie für Ärzte, die ohnehin schon überlastet sind.
Branchenvertreter wie Patrick Hoffmann von Cantourage warnen vor einem Markteinbruch von 40-60% und Tausenden gefährdeten Arbeitsplätzen. Doch die eigentlichen Verlierer sind die Patienten.
Was Patienten jetzt tun können
Trotz der schwierigen Lage gibt es Handlungsoptionen:
- Widerspruch einlegen: Innerhalb eines Monats nach Ablehnung kann Widerspruch eingelegt werden. Oft werden Entscheidungen revidiert, wenn die Begründung verbessert wird.
- Spezialisierte Ärzte aufsuchen: Ärzte mit Erfahrung in Cannabis-Verordnungen kennen die Fallstricke und formulieren Anträge oft erfolgreicher.
- Rechtsbeistand nutzen: Bei hartnäckigen Ablehnungen kann eine Klage vor dem Sozialgericht sinnvoll sein. Die Arbeitsgemeinschaft Cannabis als Medizin unterstützt aussichtsreiche Fälle.
- Dokumentation perfektionieren: Lückenlose Therapiehistorie, Nebenwirkungsprotokolle, Studienverweise – je besser der Antrag, desto höher die Chance.
Fazit: Ein System im Rückwärtsgang
Die Cannabis-Reform sollte Erleichterung bringen. Stattdessen erleben wir eine paradoxe Verschärfung: Weniger Genehmigungen, mehr Regressangst, höhere finanzielle Hürden. Die Reform von Oktober 2024 war gut gemeint – aber schlecht umgesetzt. Solange Ärzte Angst vor Regressen haben müssen und Krankenkassen jeden Antrag auf Herz und Nieren prüfen, als wäre es der Bankraub des Jahres, wird sich nichts ändern.
Das zynische daran: Der gesetzliche Anspruch steht schwarz auf weiß im § 31 Abs. 6 SGB V. Doch zwischen Gesetz und Realität klafft eine Lücke, die Tausende Patienten täglich zu spüren bekommen. Und die wird größer, nicht kleiner.