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Politik & Gesellschaft

Innenminister im Visier: Sicherheitspolitik vs. Cannabis-Freiheit auf der IMK

Satirische Karikatur: Vor der Bremer Kulisse stehen die Innenminister Reul und Herrmann wie Türsteher vor einem Zaun aus Aktenordnern. Im Hintergrund versucht Gesundheitsministerin Warken, ein Internetkabel zu durchschneiden. Ein Eichhörnchen mit einem Legal-Schild schlüpft unbemerkt durch eine Lücke im Zaun.

Bremen, Dezember 2025. Die Innenministerkonferenz (IMK) tritt zusammen, und die Agenda könnte brisanter kaum sein. Neun Monate nach dem Regierungswechsel in Berlin formiert sich eine Allianz der Härte. Während wissenschaftliche Daten Entwarnung geben, bereiten konservative Innenminister und die neue Bundesgesundheitsministerin eine administrative Offensive vor, die das Cannabisgesetz zwar nicht abschafft, aber faktisch aushöhlen könnte. (LTO IMK-Vorschau)

Die wichtigsten Punkte

  • Der politische Kontext: Seit Mai 2025 regiert eine Große Koalition unter Friedrich Merz (CDU). Die Union besetzt Schlüsselressorts (Gesundheit: Nina Warken, Innen: Alexander Dobrindt) und drängt auf eine Korrektur der Ampel-Politik. (Bundesregierung)
  • Die wissenschaftliche Realität: Der im September 2025 veröffentlichte EKOCAN-Zwischenbericht zeigt keinen Anstieg des Konsums bei Jugendlichen und eine Stagnation bei Erwachsenen. Die "Chaos-Prognosen" haben sich nicht bestätigt. (LTO EKOCAN; Uni Hamburg EKOCAN)
  • Die Strategie der Härte: Bayern und NRW nutzen die IMK für eine Verschärfung der "Vollzugshinweise". Ziel ist eine bundesweite Harmonisierung auf dem Niveau der bayerischen Höchststrafen. (WDR NRW)
  • Der Angriff auf Medizinalcannabis: Gesundheitsministerin Warken plant das Verbot von Telemedizin-Rezepten ohne physischen Arztkontakt, was die Patientenversorgung massiv einschränken würde. (BMG Cannabis)

Hintergrund: Die neue politische Realität 2025

Um die Brisanz der anstehenden Innenministerkonferenz vom 3. bis 5. Dezember 2025 in Bremen zu verstehen, muss man den Blick auf die veränderte politische Landschaft in Deutschland richten. Die Bundestagswahl vom 23. Februar 2025 hat die Karten neu gemischt. Die Ampel-Koalition ist Geschichte. Seit dem 6. Mai 2025 regiert Bundeskanzler Friedrich Merz (CDU) in einer Großen Koalition mit der SPD. (Wikipedia BTW 2025; Bundestag)

Diese Konstellation hat direkte Auswirkungen auf die Drogenpolitik. Während die SPD als "Architektin" des Cannabisgesetzes (CanG) an einer Bewahrung der Liberalisierung interessiert ist, hat die Union den "Kulturkampf gegen das Kiffen" nie aufgegeben. Da eine vollständige Rückabwicklung des Gesetzes im Bundestag am Koalitionspartner SPD scheitern würde, verlagert sich der Konflikt auf die Exekutive – in die Ministerien und auf die Ebene der Bundesländer. (LTO CDU-Strategie)

Das Personaltableau der Verschärfung

Drei Schlüsselpositionen sind nun konservativ besetzt, was den Druck auf die liberale Drogenpolitik massiv erhöht:

  1. Nina Warken (CDU), Bundesgesundheitsministerin: Als Nachfolgerin von Karl Lauterbach hat sie das Ruder im BMG übernommen. Warken gilt als scharfe Kritikerin der Legalisierung und nutzt ihre regulatorische Macht, um insbesondere den Zugang zu Medizinalcannabis zu erschweren. (BMG Warken; Bundesregierung Profil)
  2. Alexander Dobrindt (CSU), Bundesinnenminister: Der ehemalige Verkehrsminister führt nun das BMI. Seine Linie ist klar: Maximale Sicherheit, null Toleranz. Er unterstützt die Forderungen der Länder nach härteren Eingriffsbefugnissen. (Bundesregierung; BMI)
  3. Joachim Herrmann (CSU) & Herbert Reul (CDU): Die Innenminister von Bayern und NRW fungieren als "Einpeitscher" auf Länderebene. Sie nutzen die IMK, um über den Föderalismus Fakten zu schaffen, die der Bund nicht per Gesetz diktieren kann. (DHV zu Reul)

Analyse: Die Agenda der IMK in Bremen

Die Innenministerkonferenz ist traditionell das Gremium, in dem sich Bund und Länder über Sicherheitsfragen abstimmen. Doch in Bremen geht es dieses Mal um mehr als nur Fußball-Randale oder Grenzkontrollen. Es geht um die Deutungshoheit über die gesellschaftliche Realität. (LTO IMK-Beschlüsse)

Der Konflikt: Gefühlte Sicherheit vs. Gemessene Daten

Die konservativen Innenminister argumentieren mit einem drohenden Kontrollverlust. Sie warnen vor einer "Normalisierung" des Drogenkonsums, steigenden Unfallzahlen und einer Überlastung der Polizei. Diese Narrative stehen jedoch in direktem Widerspruch zu den vorliegenden Daten.

Behauptung der Innenminister Fakten aus dem EKOCAN-Bericht (Sept. 2025)
"Der Konsum explodiert, besonders bei der Jugend." Widerlegt. Die Konsumprävalenz bei 12- bis 17-Jährigen ist stabil bis leicht rückläufig (von 6,7% auf 6,1%). Bei Erwachsenen stagniert der Konsum auf hohem Niveau, ohne den befürchteten Sprung. (LTO)
"Der Schwarzmarkt wächst unkontrolliert." Differenziert. Der klassische Straßenhandel geht zurück. Konsumenten verlagern sich zunehmend auf den Eigenanbau und private Netzwerke ("Social Supply"). Organisierte Strukturen verlieren Marktanteile. (DHV Marktentwicklung)
"Die Polizei ist überlastet." Gegenteiliger Effekt. Durch den Wegfall von über 180.000 Strafverfahren pro Jahr wegen Besitzdelikten werden Kapazitäten frei. Die Belastung entsteht künstlich durch intensivierte Kontrollen ("Sichtweite"). (GdP Bilanz)

Der EKOCAN-Zwischenbericht, erstellt von Forschern der Universität Hamburg und anderen Instituten, ist der "Elefant im Raum". Er liefert keine Munition für eine Verschärfung, sondern bestätigt weitgehend die Annahmen der Reformer. Dass die Innenminister dennoch auf Härte setzen, zeigt: Es geht nicht um Evidenz, sondern um Politik. (EKOCAN Vollbericht)

Die Instrumente der Härte: Vollzugshinweise als Hebel

Da das Gesetz selbst (noch) nicht geändert ist, versuchen Bayern und NRW, den Vollzug so unattraktiv wie möglich zu gestalten. Auf der Agenda der IMK stehen konkrete Beschlussvorlagen:

  • Harmonisierung der Bußgelder: Bayern fordert, dass alle Bundesländer ihren Bußgeldkatalog an die bayerischen Höchstsätze anpassen. Ein Joint auf dem Spielplatz soll überall 1.000 Euro kosten, nicht nur in München. (Bayern Bußgeldkatalog)
  • Definition der "Sichtweite": Das Gesetz verbietet Konsum in Sichtweite von Schulen (100 Meter). Die Hardliner wollen dies extrem auslegen: "Sichtweite" soll auch gelten, wenn ein Sichtkontakt theoretisch möglich wäre, selbst wenn Hindernisse im Weg sind. (KCanG §5)
  • Verkehrskontrollen: Trotz der Anhebung des Grenzwertes auf 3,5 ng/ml THC fordert Joachim Herrmann eine "Null-Toleranz-Praxis" bei Kontrollen. Jeder Anfangsverdacht soll zur Blutentnahme führen, um den psychologischen Druck auf Konsumenten aufrechtzuerhalten. (Bayern.de Herrmann)

Die zweite Front: Der Angriff auf die Patienten

Parallel zur IMK eröffnet Bundesgesundheitsministerin Nina Warken (CDU) eine zweite Front. Ihr Ziel: Das Medizinalcannabisgesetz (MedCanG). Seit der Teillegalisierung ist die Zahl der Patienten, die Cannabis auf Privatrezept beziehen, sprunghaft angestiegen. Telemedizin-Plattformen machten es möglich, ohne stigmatisierende Wartezimmer-Gespräche eine Therapie zu beginnen.

Genau das ist Warken ein Dorn im Auge. Ihr Gesetzentwurf, der im Oktober das Kabinett passierte, sieht vor, dass Cannabis nur noch verschrieben werden darf, wenn zuvor ein persönlicher Arzt-Patienten-Kontakt stattgefunden hat. (BMG Cannabis; Taylor Wessing Analyse)

Warum ist das wichtig?

Für Patienten im ländlichen Raum oder mit Mobilitätseinschränkungen war die Telemedizin ein Segen. Ein Verbot würde Tausende zurück in die Illegalität oder in den grauen Markt des Eigenanbaus drängen. Juristische Experten warnen: "Das BMG greift zur Brechstange", wie LTO berichtet. Es ist der Versuch, eine moderne Versorgungsform mit den Mitteln des letzten Jahrhunderts zu bekämpfen. (LTO Brechstange; ZM Online)

Satirische Karikatur: Nina Warken durchschneidet mit einer riesigen Schere ein Internetkabel. Ein Patient auf dem Bildschirm verschwindet. Ein Eichhörnchen in Arztkittel versucht, die Leitung mit einem Pflaster zu flicken.

Reaktionen: Der Widerstand formiert sich

Die Pläne der Union stoßen auf breiten Widerstand, nicht nur in der Cannabis-Community, sondern auch bei Koalitionspartnern und Experten.

SPD und Grüne: Verteidigungslinie steht

Daniela Behrens (SPD), Innenministerin von Niedersachsen und Gastgeberin der Vorkonferenzen, befindet sich in einer schwierigen Position. Sie muss die Sicherheitsinteressen wahren, ohne die progressive Drogenpolitik ihrer Partei zu verraten. Behrens kritisiert zwar handwerkliche Fehler des Gesetzes (Abstandsregeln), lehnt aber eine Rückabwicklung ab. Die Grünen, nun in der Opposition, warnen lautstark vor einer "Kriminalisierung durch die Hintertür". (Cannabis Law Report; Int. CBC SPD)

Verbände: Klare Kante gegen "Lügen"

Der Deutsche Hanfverband (DHV) wählt drastische Worte. Georg Wurth wirft NRW-Innenminister Reul vor, die Öffentlichkeit bewusst zu täuschen.

"Reul lügt, wenn er behauptet, dass der Cannabis-Schwarzmarkt durch das Cannabisgesetz gewachsen sei. Dafür gibt es keinerlei Evidenz. Vielmehr ist davon auszugehen, dass der Schwarzmarkt durch erheblich zunehmenden Eigenanbau Absatzprobleme hat."

Auch die Gewerkschaft der Polizei (GdP) meldet sich zu Wort. Jochen Kopelke fordert statt ideologischer Debatten praktikable Lösungen. Die Polizei brauche Rechtssicherheit, keine neuen, unklaren Aufgaben. (GdP Bilanz)

Die Justiz: Ein Korrektiv

Dass politischer Wille nicht über dem Recht steht, musste Bayern kürzlich schmerzhaft erfahren. Der Bayerische Verwaltungsgerichtshof (BayVGH) kassierte das pauschale Verbot des Cannabiskonsums im Englischen Garten in München. Das Urteil (Az. 10 N 25.826) stellt klar: Länder dürfen Bundesgesetze nicht durch lokales Hausrecht aushebeln. Ein wichtiges Signal für die IMK: Nicht jeder Wunsch nach Härte ist juristisch machbar. (LTO BayVGH Urteil; BayVGH PM)

Fazit & Ausblick: Der kalte Entzug

Die Innenministerkonferenz 2025 in Bremen markiert einen Wendepunkt. Die Phase der "Aufbruchstimmung" ist vorbei, der administrative Rollback hat begonnen.

Was bedeutet das für Konsumenten?
Das Kiffen bleibt legal, aber es wird ungemütlicher. Der Kontrolldruck im öffentlichen Raum wird steigen, besonders in konservativ regierten Ländern. Die "Sichtweite" wird zum Gummiparagraphen, der Willkür Tür und Tor öffnet.

Was bedeutet das für Patienten?
Sollte Warkens MedCanG-Änderung durchkommen, wird der Zugang zu Medizin deutlich schwerer. Der Weg führt zurück ins volle Wartezimmer oder – fatalerweise – zurück zum Schwarzmarkt. (LTO EU-Recht)

Die Große Koalition unter Merz zeigt ihr Gesicht: Sie wagt nicht den offenen Bruch mit der Legalisierung (zu populär, zu komplex), sondern setzt auf die "Salami-Taktik". Scheibchenweise werden Freiheiten eingeschränkt, Hürden aufgebaut und Kontrollen verschärft. Die Wissenschaft, vertreten durch EKOCAN, ruft "Alles ruhig", doch die Politik hält sich die Ohren zu. In Bremen wird nicht über Fakten verhandelt, sondern über Weltbilder.

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